Ausgabe: März/April 2004 


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Die Stille der Katzen

Dem Lyriker Michael Hamburger zum 80. Geburtstag

Von Nico Bleutge


Sollte man sich für die Gedichte Michael Hamburgers eine Tageszeit aussuchen, es wäre vielleicht der frühe Morgen – jenes zarte Gefüge aus Luft und Farbe, in dem die Umrisse noch nicht fest sind. Nur langsam hebt das erste Licht die Gegenstände aus dem Dunst, und das Gewusste und das Sichtbare bleiben für einen Moment in der Schwebe. Michael Hamburger hat dieser Dämmersphäre ein Gedicht gewidmet, das die Morgenstunden "mit dem Nochnicht jeden Aufstehns" zu einem feinen Bändchen verzwirnt, einem "Faden von Anfängen, lang wie ein Leben, / So dünn, so stark, daß er das, was er band, überdauert hat". Dieser Faden mäandert durch all die Texte Hamburgers, verhakt sich hier in einem Gedicht, dort in einem kleinen Essay, und schließt so auf wundersame Weise die Zeiten zusammen, "das gewesene, künftige, gegenwärtige Licht".

Vielleicht muss das Wort zuerst etwas Seltsames werden, damit es recht eigentlich leuchten kann. Vielleicht muss das poetische Denken immer flüssig sein, damit es überhaupt Kristalle bilden kann – kleine Verfestigungen in Form von Gedichten. Der englische Lyriker Michael Hamburger tastet nach den Schwebemomenten der Stille, er weiss genau, "wie man nichts sagt, nur schaut / Und aufgeht im Schauen." Seinen Gedichten eignet eine Kunst, die man mit einem etwas altmodischen Wort poetische Kraft nennen könnte: Sie zeigen uns das scheinbar Bekannte so, dass wir es ganz neu sehen lernen, und fügen zugleich das Andere zu etwas scheinbar schon immer Vertrautem. Aus den Blicken und Lauten der losen Welt filtern sie Ruhe und halten so den Atemstrom für einen Augenblick an, verwandeln das Flüchtige in leicht schwingende Verse, "in eine Bewegung wie Musik, / Die ihren ganzen Raum nur ausmißt, / Um dort, wo sie herkam, zu ruhn".

Dort, wo Michael Hamburger selber herkam, konnte er mit seiner Familie nur kurze Zeit ruhen. Als die Hamburgers im November 1933 Berlin in Richtung England verließen, hatte der neunjährige Michael bereits erfahren, dass sich die Kinder jüdischer Herkunft vor den Schulstunden nach der Vergangenheit ihrer Eltern befragen lassen mussten. Bald schon fand die Familie in London ein neues Zuhause, und Michael Hamburger folgte dem Wunsch, sich die Fremde flugs zu erobern. Die Wörter der neuen Sprache seien erstaunlich schnell dagewesen, notiert er in seinen Erinnerungen A Mug’s Game aus dem Jahr 1973. In einem kleinen Essay hat er diesen Umzug von einem Sprachkreis in einen anderen später als "zweite Sprachverwirrung" gedeutet und den Verlust der sprachlichen Unbekümmertheit als Erklärung für sein lebenslanges Misstrauen gegenüber dem bloßen Benennen gebraucht. Doch all die Skepsis dieses "zweiten Schnabels" führte Michael Hamburger niemals dahin, die Wortkörper selbst mit dem Blick zu sezieren. Er suchte die verlorene Unschuld vielmehr hinter den Namen, "in den Dingen und Wesen selber".

Die Sprache seiner Gedichte sollte fortan das Englische sein, "da es mir nur einmal gelungen ist, ein nicht ganz verwerfliches Gedicht auf deutsch zu schreiben." Der zweite Schnabel wuchs an, und vielleicht mag dies erklären, warum für Michael Hamburger Schreiben und Übersetzen von Beginn an zusammengehörten. Wer mit 17 Jahren eine geschliffene Hölderlin-Übertragung vorlegen kann, wer in seinen ersten Gedichten Rimbaud beschwört und vom Tode Diotimas singt, der weiß wohl genau, dass er seinen Weg in die Sprache gefunden hat. Als Übersetzer und Essayist, als "Vermittler", der nur nebenbei sein Auskommen als Literaturwissenschaftler versucht, ist Hamburger auch im deutschsprachigen Raum bekannt geworden. In seiner Dialektik der modernen Lyrik von 1969 versuchte er die Lyrik zwischen künstlerischem und moralischem Anspruch zu verorten und mag so zugleich eine Idee des eigenen Schreibens skizziert haben.

Als Dichter indes ist Michael Hamburger erst recht spät bei uns angekommen. Es gab nur einige wenige kleine Sammlungen und verstreute Gedichte in Zeitschriften, ehe Richard Dove 1997 unter dem Titel Unteilbar eine kluge Auswahl bei Hanser herausbrachte, in der sich fast 30 Übersetzer an Hamburgers Gedichten versuchen. Seit 1994 arbeitet zudem der Wiener Folio Verlag an einer umfassenden Edition, deren Übertragungen von Peter Waterhouse besorgt werden. Schon daran, wie genau sich die einzelnen Sprachkünstler an diesem Ton reiben, von Hans Magnus Enzensberger bis Michael Krüger, von Reiner Kunze bis Michael Donhauser, zeigt sich zweifellos seine Einzigartigkeit.

Skeptiker mögen Michael Hamburgers Verständnis von Lyrik ein materialistisches nennen, jedenfalls will es seine Vorbehalte gegenüber einer reinen Sprachartistik nicht verleugnen. Was Enzensberger 1962 in dem einfachen Satz zu verpacken wusste – "Ich kann, wenn ich einen Vers mache, nicht reden, ohne von etwas zu reden, und dieses Etwas, so gut wie die Sprache, die davon spricht, ist mein Material" – umkreist Michael Hamburger in seinen Gedichten und Essays mit einer Genauigkeit, die ihresgleichen sucht. Weil die Wörter niemals gänzlich von der Verknüpfung mit Ideen und Bedeutungen gelöst werden können, davon ist Hamburger überzeugt, könne der Mensch nicht aus einer Dichtung ausgeschlossen werden, die vom Menschen selbst gemacht ist. Wo immer große Poesie geschrieben worden ist, sind Imagination und äußere Erfahrung eine neue Verbindung eingegangen.

Und so bindet Michael Hamburger seine Gedichte bis in die feinsten Verästelungen an das, was man als Mensch erfährt, erlebt oder spürt, kurz: was man wahrnimmt. Vielleicht als Gegenimpuls zum bloßen Namengeben der alltäglichen Sprache inszeniert er den genauen Blick, ein Sehen, das noch den kleinsten Riss erhascht: "Aber ein Schnabelfisch, regungslos, / leuchtet auf, messerscharf seine Flanke, gefleckt und opalgrün – / mir unbekannt, noch nie gesehn". Doch der Blick, den die Verse zu kultivieren suchen, erweist sich von Beginn an als geheimer Bruder der Reflexion. "Da stehe ich, schaue" heißt es ein ums andere Mal in den Gedichten. Der kürzlich verstorbene Rainer Malkowski, ein anderer dieser großen Augenmenschen, hat es einmal so formuliert: "Kaum zu unterscheiden, ob genaues Sehen noch Sehen ist oder schon ein Gedanke".

Auch wenn Michael Hamburger seine frühen Gedichte heute als eher naive Ausflüge in eine literarische Gegenwelt deutet: In seinem lyrischen "Zimmer ohne Aussicht" lauscht er schon damals den Schwingungen der Welt und notiert das "Schweigen, gefiltert / aus den endlosen Tumulten von Eichhörnchen, Dohlen und Eulen". Den Subjektivismus seiner Anfänge überwindet er mit Gedichten, die das Individuelle ganz in einem äußeren Gegenstand versenken wollen, es mögen Landschaften sein, Fische oder Bäume. Während der Blick sich nach und nach weitet, hier eine S-Bahn erhascht, dort einen Autoschrottplatz in Massachusetts, wird der Bau der Gedichte leichter, wandert von den strengen Formen hin zu einem Versschwung wie "Vogelsang, die gröberen, hüpfenden Rhythmen".

Die filigranen Verschlingungen von Reflexion und Sehen freilich entfaltet Michael Hamburger erst in seinen beiden großen Variationsgedichten "Unterwegs" und "In Suffolk", weit ausgreifenden Wanderungen über die Gefilde von Gehen und Bleiben. Was in seinen ersten Strophen noch dem Rhythmus der Jahreszeiten folgt, verliert sich im Fortlauf immer mehr an die "verwirrende Gleichheit" der Orte und Zeiten, die alles im Fluss hält. Zwischen Bergen und Seen, "Mustern, Photos und Notizen" nimmt das stromernde lyrische Ich dieser Verse Geruchsspuren wahr, besteigt Hänge und schlägt sich "Breschen" durch das Gestrüpp der Namen und der "zwittrigen Gegend", immer darauf bedacht, die Sinne offen zu halten für die kaum merklichen Epiphanien der Wahrnehmung, "kleine Wellen" oder "das Aufblitzen, golden, / von Flügeln im Flug". So wie die Erde hier in einem langen, langsamen Traum eine Form annimmt und wieder verliert, laufen auch die Strophen mit ihrem verschränkten Satzbau oft auf den letzten Vers zu, kommen kurz zur Ruhe, wie eine "Musik aus Stille / und Strenge", um bald wieder neu zu schwingen.

Michael Hamburgers Bekenntnis zum Komplexen des Lebens, seine Verteidigung einer "wirklichen Wahrnehmung", ruft zugleich die Bilder der Erinnerung auf. Wer die Wirklichkeit wahrnehmen wolle, hat Hamburger einmal geschrieben, der müsse sich auch darauf einlassen, sie mit all ihren Scharten und Brüchen zu ertragen. Verwoben mit der eigenen Biographie, mit der Flucht aus Berlin und der Ermordung der Großmutter durch die Nationalsozialisten, legt Hamburger schon früh Gedächtnisspuren durch seine Verse. An Genauigkeit kaum zu übertreffen ist wohl der Zyklus "In einer kalten Jahreszeit", dessen Worte sich der Figur Adolf Eichmanns anzunähern suchen – wobei das mögliche Scheitern des Unternehmens von Beginn an bedacht ist. Hamburger vertraut seine Verse unterschiedlichen Tönen an. Wo er die Erinnerungen an die Morde in ein festes Metrum überführt, fängt er die Rituale Eichmanns in einer freien, kühl beschreibenden Sprache ein, um bald schon aufs Neue den Ton zu variieren, in zarten Gedächtnisbildern der ermordeten Großmutter zu gedenken. So gelingt es dem Gedicht, jene Spaltung zwischen abstraktem Wissen und lebendiger Erfahrung zu überwinden, die auch für Eichmanns Handeln verantwortlich zeichnet.

Je weiter Michael Hamburgers Schreibleben voranschreitet, desto feiner greifen Augenblickskunst und Gedächtnisbilder ineinander. Was die Rede von der "Katze Erinnerung" recht eigentlich bedeuten kann, zeigen vielleicht erst diese wundersamen Gedichte. Wahrscheinlich muss man sich ein Lieblingsgedicht aussuchen, um der morgendlichen Schwebe von Hamburgers Traum- und Sehzeilen überhaupt entsprechen zu können. Zu seinem 80. Geburtstag wünschen wir uns, dass er noch lange jene Ruhe des Schreibens finden möge, die seine "Alternde Katze" verspricht:

Alternde Katze

Ihre Jahre messen die meinen.
So fest sind ihre Gewohnheiten, daß sie
wittert, vorherweiß, was sich verändert im Haus
oder im Wetter, und es anzeigt für mich,
wenn auch nur mit einem Zucken des Ohrs,
einem Beben des Schwanzes.
Sie prophezeit Verwicklungen,
Abreise, Gewitter
durch ihr Nichtdasein – versteckt
hinter der Heizung. Zuweilen
spielt sie noch, kätzchenhaft,
oder jagt; dann aber sammelt sie
alle Bewegung, Eitelkeit
in ihre große Stille,
die ihr ganzes Sein enthält
und darüber hinaus ihre Gattung. Wenn sie dort
bleibt, stirbt, erweist sie dann mich als sterblich.


Zum Weiterlesen:

Unteilbar. Gedichte aus sechs Jahrzehnten. Zusammengestellt von Richard Dove. Hanser Verlag, München 1997. 240 Seiten, 23,50 Euro

Traumgedichte. 1996. 61 Seiten

Todesgedichte. 1998. 141 Seiten

Das Überleben der Erde. Gedicht. 1999. 105 Seiten

In einer kalten Jahreszeit. Gedichte. 2000. 58 Seiten

Die zweisprachigen Ausgaben mit Übertragungen von Peter Waterhouse erscheinen im Folio Verlag, Wien und Bozen und kosten jeweils 12,50 Euro. Demnächst kommt dort der Band Aus einem Tagebuch der Nichtereignisse.

Von:
Nico Bleutge, 1972 geboren, lebt als Lyriker und Literaturkritiker in Tübingen. Gerade erschien von ihm die Gedichtsammlung "kühlere schläfen" in der Zeitschrift Sinn und Form.


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