Ausgabe: Mai/Juni 2006  


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Eine Wunderkammer auf dem Zauberberg

Am 6. Juni wird das Marbacher Literaturmuseum der Moderne, kurz LiMo, eröffnet

Von Michael Bienert

I.
Manchmal erfährt man in Berlin interessante Dinge über das Innenleben der Marbacher Schillerhöhe. An der Humboldt-Universität hielt Ulrich Raulff, seit eineinhalb Jahren Direktor des Deutschen Literaturarchivs, im Januar einen Gastvortrag zu der selbst gestellten Frage: “Wie kommt die Literatur ins Archiv – und wer hilft ihr wieder heraus?” Nach einem Streifzug durch die Begriffsgeschichte des Archivs amüsierte Raulff seine Zuhörer mit einer ironischen Phänomenologie der Tätigkeiten, die in seinem Institut praktiziert werden. Stets umgebe ein “Hauch von Totenkult und Kopfjagd” die Arbeit der Archivare: das Sammeln, Selektieren, Konservieren, Klassifizieren, Katalogisieren und Einpacken der literarischen Lebenszeugnisse in gleichförmige grüne Pappkartons. Ein “Indianerreservat des Kennertums” nannte der Chef sein Marbacher Revier. Es klang ein bisschen, als sei der ehemalige Kulturchef der Süddeutschen Zeitung unerwartet in die Hände von Menschen-, nein: bleichen Papierfressern gefallen.

Dann rechnete Raulff mit der bisherigen Ausstellungstätigkeit seines Hauses ab, die es doch in den vergangenen 30 Jahren berühmt gemacht hat, weit über den engen Kreis der Literaturforscher hinaus. Eine “positivistische Ideologie” unterstellte er seinen Vorgängern. Der nüchterne “Marbacher Stil” verleugne den Akt des Zeigens, zugleich würden die in den Vitrinen ausgestellten Objekte durch die beigegebenen Legenden “überredet”. In Zukunft, so kündigte der Direktor an, werde die “Undurchsichtigkeit des Exponats” stärker herauszustellen sein, seine “Erratik” – und nicht seine Transparenz auf eine bestimmte Deutung hin.

Man hörte – und staunte. Bestand nicht ein besonderes Verdienst der Marbacher Ausstellungen und Publikationen gerade darin, die Literatur vor der Deutungswut der akademischen Literaturwissenschaft in Schutz zu nehmen? Marbach war nie eine ideologische Kaderschmiede von Marxisten, Poststrukturalisten oder Systemtheoretikern. In Marbach lernte man von den Handschriften und Lebenszeugnissen her das Leben der Literatur neu sehen, befreit von ausgeliehenen und ausgelutschten Begriffsinstrumentarien. Mit den Archivalien brachten die Kuratoren zum Vorschein, was man das Begrifflose der Literatur (und ihrer Wissenschaft) nennen könnte.

Gewiss hat es auch ermüdende Marbacher Ausstellungen gegeben, bei denen die Spezialisten aus dem Archiv sichtlich Mühe hatten, die Materialfülle zu bändigen. Doch in guter Erinnerung geblieben sind vor allem Kabinettstücke wie die spielerisch leichtfüßige Ausstellungsreihe “Vom Schreiben”, die quer durch die Literaturgeschichte den Schreibanfängen, Schreibstimulanzien, Schreiborten, Schreibwerkzeugen und ungeschriebenen Büchern nachspürte. Worauf also zielte der Furor der institutionellen Selbstkritik im Vortrag des amtierenden Archivdirektors? Bei künftigen Literaturausstellungen sei der “Fingerzeig ins Unsichtbare” wichtig, so Raulff. Es gehe gleichermaßen darum, die Immaterialität und Körperlichkeit des Ausgestellten spürbar zu machen. Der Wunsch sei, etwas nicht Ausstellbares auszustellen – aber ist das nicht schon immer die heimliche Sehnsucht aller ambitionierten Ausstellungsmacher gewesen?

II.
Da steht er nun, der neue Museumsbau, und strahlt in der Sonne. Mit Raffinesse hat der Architekt David Chipperfield das Gebäudeensemble auf der Schillerhöhe vervollständigt. Dem Hausheiligen Schiller auf seinem Denkmalgipfel liegen nunmehr drei Schatzhäuser der Literatur im Halbkreis zu Füßen: das neobarocke Lustschloss des Schiller-Nationalmuseums, die nüchternen Funktionsgebäude des Deutschen Literaturarchivs und das von ferne wie ein klassizistischer Tempel anmutende Literaturmuseum der Moderne. Eine schwäbische Akropolis.

Chipperfields Architektur zeigt allerdings eine entschieden nachmoderne Handschrift: Er spielt mit Klassizismus und Modernismus. Wer aus Berlin nach Marbach kommt und den Neubau sieht, denkt sofort an Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie. Auch dort sitzt ein Glaskubus als Entree auf einem viel größeren Unterbau mit weitgehend lichtlosen Ausstellungssälen. Die strenge Symmetrie ist bei Chipperfields Tempel jedoch zielstrebig aufgehoben. Das Dach liegt nicht mittig auf dem Unterbau auf, es gibt keine Freitreppe, man erreicht die Eingangstür nur auf Umwegen. Ebensowenig existiert im Inneren eine klare Hierarchie der Räume. Was sich ganz oben befindet, Garderobe und Kasse, kann nicht die Hauptsache sein, und treppab gelangt man zu ganz unterschiedlich geschnittenen Ssälen, von denen keiner durch die Architektur als Allerheiligstes definiert ist.

In der ganze Anlage des Baus steckt eine dezidierte Antwort darauf, was das denn eigentlich sein sollte: ein Literaturmuseum der Moderne. Modernität, sagt dieses Gebäude, bedeutet nicht Traditions- und Ortlosigkeit. Wohl aber den Verzicht auf eine festgelegte Hierarchie von Oben und Unten, Links und Rechts, Hinten und Vorne. Es gibt keine eindeutige Mitte, kein Zentrum.
Man kann das negativ sehen, dann erscheint die Moderne als Epoche des Verlusts, der Unordnung und des Chaos. Man kann das auch positiv sehen: als Moment von Freiheit. Ja, wahrscheinlich ist der vertrackte Neubau Schillers Ästhetik viel angemessener als der streng symmetrische, um das Pantheon des Schillersaals gruppierte Ursprungsbau des 1903 geweihten Nationalmuseums – denn wie heißt es bei Schiller? “Freiheit allein ist der Grund des Schönen.”

III.
Im größten Saal des halb in den Museumshügel eingegrabenen Literaturmuseums der Moderne verlegen Bauarbeiter die Anschlusskabel für mehrstöckige Glasvitrinen. Sie sind speziell für dieses Museum entwickelt worden, in dessen Schausammlung aus konservatorischen Gründen Dämmerlicht herrschen muss. 1300 Objekte der Dauerausstellung sollen allein in diesem Raum zu sehen sein. Eine schwer glaubliche Zahl, verglichen mit sonstigen Ausstellungen, aber sie wird auf Nachfrage bestätigt. Die Inkunabeln des Museums wie die Manuskripte von Kafkas Proceß und Döblins Berlin Alexanderplatz werden hier ausgestellt, aber auch Briefe, Zettelkästen, amtliche Papiere, Postkarten, Familienfotos, Kleidungsstücke – eine Wunderkammer des 20. Jahrhunderts.

Von einer “Archäologie” spricht die Leiterin der Museumsabteilung und Kuratorin Heike Gfrereis. Thematische Pfade sollen durch dieses gläserne Archiv führen, ein multimedialer elektronischer Museumsführer soll zusätzliche Informationen bereitstellen. Wie das vom Publikum angenommen wird, darüber gibt es unter den Marbacher Mitarbeitern weit auseinander liegende Prognosen. Mangelnde Risikobereitschaft, ängstliches Festhalten am bewährten “Marbacher Stil” kann man dem Kuratorenteam um Heike Gfrereis und Roland Kamzelak jedenfalls nicht zum Vorwurf machen.

Abgesichert sind sie ohnehin durch Qualität und Fülle der Marbacher Sammlungen, die ihresgleichen nicht haben. Und es gehört zum Wesen von “ständigen” Ausstellungen, dass sie mit der Zeit an die Bedürfnisse der Besucher angepasst werden. So findet man in der Dauerausstellung des vor fünf Jahren eröffneten Jüdischen Museums in Berlin zum Beispiel heute nur noch halb so viele Exponate wie zu Beginn. Auch in Marbach wird man erst einmal Erfahrungen mit dem neuen Haus und neuen Ausstellungskonzepten sammeln und auswerten. Von seinem inneren Zuschnitt her gleicht das Literaturmuseum der Moderne ohnehin mehr einem Labor, was durch die Nüchternheit der teilweise unverputzten Decken in den Ausstellungsräumen noch unterstrichen wird.

Die sechs Säle im Untergeschoss sollen ganz unterschiedlich bespielt werden, außerdem existiert eine unterirdische Verbindung zum Altbau mit seinen Tageslichtsälen: So bietet sich der Experimentierfreude auch in Zukunft ein großes Reservoir an gestaltbaren Räumen. Ehe alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden können, muss allerdings das alte Schiller-Nationalmuseum renoviert und technisch auf den neuesten Stand gebracht werden – noch auf einige Jahre wird die Schillerhöhe eine Baustelle bleiben.

IV.
Nötig geworden ist der Bau eines Literaturmuseums der Moderne durch die Verlagerung der Sammlungsschwerpunkte im Literaturarchiv seit dem Zweiten Weltkrieg. Bildeten ursprünglich Schiller und die schwäbischen Dichterkollegen den Kern seines Bestands, so verwahrt es inzwischen hauptsächlich Dichternachlässe und andere Archivalien aus dem 20. Jahrhundert. Wie der Altbau ist das Archiv unterirdisch mit dem Neubau verbunden, und man hat die Gelegenheit genutzt, mit dem Museumstempel noch mehr Stauraum für das Archiv unter dem Museumsvorplatz zu schaffen.

Einige Regale im unterirdischen Gängesystem des Archivs dienen zur Zeit als Zwischenlager für die Exponate der künftigen Dauerausstellung. Von dort aus wandern die Ausstellungsstücke zum Fotografen oder in die Restaurierungswerkstatt und wieder zurück. Wenige Meter entfernt rummst es hinter einer Plastikplane, dort wird gerade ein neuer Durchbruch zur Archiverweiterung aufgestemmt. Die Pressesprecherin des Literaturarchivs, Christiane Dätsch, erlaubt dem Besucher einen Blick in die nach Jahrzehnten und Sachgruppen geordneten Exponatekisten. Wem wohl gehören die Hornbrillen, die bestimmt noch einmal geputzt werden, ehe sie in eine Vitrine umziehen? Auch wer schon oft in Marbach zu Besuch war, ist immer wieder überrascht, welche Schätze in der Unterwelt schlummern.

Ein Manuskript von Erich Kästners Emil und die Detektive zum Beispiel, in Stenografie vom Autor selbst geschrieben, und ein Telegramm von Marlene Dietrich an den Autor: “ich wuenschte sie koennten meine kinder lachen hoeren”. Christian Morgensterns erste Galgenlieder in einem Buchunikat aus der Entstehungszeit: Es hat die Gestalt eines martialischen Henkersbeils, das sich aufblättern lässt. Von Fritz Rudolf Fries kommt ein Kinderbuch mit Pop-up-Figuren, das er mit 13 Jahren selbst gebastelt hat. Aus dem Nachlass des Soziologen Norbert Elias stammen “Ration Books” mit Lebensmittelmarken aus den Nachkriegsjahren. Der Philosoph Karl Jaspers ist mit einem Thorax-Röntgenbild vertreten, einem ungewöhnlichen Autorenfoto. Von seinem Lungenleiden, das Jaspers beklagte, ist auf dem Foto allerdings so gut wie nichts zu erkennen. Ein Wegweiser ins Unsichtbare ...

Und dann ist da noch ein versiegeltes braunes Päckchen mit Briefen, die Hermann Hesse 1926/27 an Ninon geschrieben hat, seine spätere und dritte Ehefrau. Mit Kugelschreiber hat jemand darauf notiert: “Dem Archiv in Marbach übergeben. Darf nicht vor 2017 geöffnet werden.” Auch nach der Eröffnung des neuen Museums, so sieht es aus, bleibt die Schillerhöhe ein Zauberberg voller Geheimnisse.

Am 6. Juni eröffnet Bundespräsident Horst Köhler das Literaturmuseum der Moderne, das seine erste Dauerausstellung in drei Räumen und dazu zahlreiche Veranstaltungen präsentiert, siehe Kalender und http://www.dla-marbach.de/.

Michael Bienert stellt noch bis zur Eröffnung wöchentlich ein Exponat aus dem neuen Museum in der Stuttgarter Zeitung vor. Die ganze Serie ist nachzulesen auf der Website: www.dla-marbach.de/aktuelles/presseschau/index.html.


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