Ausgabe: Juli/August 2010 


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Orientträume und Revolutionspoesie

Dem Dichter Ferdinand Freiligrath zum 200. Geburtstag

 

Von Helmuth Mojem

 

Freiligrath findet sich in jedem bürgerlichen Bücherschrank – zuerst bin ich ihm allerdings nebenan, bei Karl May, begegnet. In dessen Kolportageschmöker Die Liebe des Ulanen wird eine Szene in einem algerischen Kaffeehaus beschrieben, wo ein Märchenerzähler seinen Zuhörern orientalische Szenen vor Augen führt, und zwar – zugegebenermaßen wenig glaubwürdig – ausgerechnet mit Versen von Freiligrath: Er zitiert den berühmten „Löwenritt“. Über den Beleg von Freiligraths enormer Popularität hinaus verrät das Zitat eine unbestreitbare Verwandtschaft zwischen den beiden Autoren. Freiligraths Wüstenpoesie, die Feier des Exotischen in seinen Gedichten, die abenteuerliche Szenerie, das daraus sprechende Fernweh und nicht zuletzt die etwas hochstaplerisch zur Schau getragene Vertrautheit mit der Fremde, dies alles findet sich auch bei Karl May.

Ist also Karl May der eine Bezugspunkt für eine Beschreibung von Freiligraths Eigenart als Dichter, so ist Karl Marx der andere. Freiligrath, geboren 1810 in Detmold, gestorben 1876 in Cannstatt, war in den Jahren 1848/49 Mitarbeiter von dessen Neuer Rheinischer Zeitung und veröffentlichte damals zahlreiche agitatorische Gedichte, die ihm – nun wohl über andere Leserschichten – einen abermaligen Popularitätszuwachs verschafften. Diese Gedichte zeigen ein ganz anderes Profil: Sie beziehen sich aufs Hier und Jetzt und haben klare politische Botschaften. Zwischen Karl May und Karl Marx, zwei Polen des 19. Jahrhunderts, zeigt sich somit ein vielgestaltiger, wandlungsfähiger Literat, dessen Werk man gewichtigen Anteil an den maßgeblichen Fragestellungen und Tendenzen seiner Zeit zubilligen kann. Dem steht das vernichtende Urteil Heinrich Heines über die ästhetische Qualität von Freiligraths Gedichten gegenüber, etwa in der boshaften Parodie des „Mohrenfürsten“ im Atta Troll. Insgesamt ergibt sich bei erster Annäherung also ein durchaus mehrdeutiges Bild des Autors, das zu näherer Betrachtung herausfordert.

 

Freiligraths Gedichte erschienen 1838 im renommierten Cotta-Verlag und erreichten bis 1890 die 47. Auflage; es handelt sich also um ein Erfolgsbuch, an dem sich der literarische Geschmack des 19. Jahrhunderts ablesen lässt. Damit kann es nicht zum besten gestanden haben. Die Gedichte enthalten recht ungelenke Verse, mit dem Rhythmus hapert und holpert es, häufig wird der Sprachfluss durch angestrengte Genitivkonstruktionen gestört und manche Reime muss man zumindest als gesucht bezeichnen: Ottomane / Karavane, Mohre / Tricolore, Kabylen / Schwielen, Fez / Minarets, Dschaggas / Quaggas, Creolen / Fohlen, Diana / Guyana, Quito / Moskito.

Freiligrath erschloss der deutschen Lyrik im wahrsten Sinne des Wortes neue Gebiete, will sagen exotische Lokalitäten: das Meer, den wilden Orient, die Wüste. Seine Gedichte sind versgewordene Fernträume des Biedermeier, pulsierende Versuche, die bleierne Zeit durch Imagination von Sinnlichkeit und Gewalt zu überwinden, Machtphantasien gegen den bürgerlichen Alltag – alles in allem ein gut gehender lyrischer Kolonialwarenhandel. Bescheidenere Zeitgenossen begeisterten sich am Freiheitskampf der Griechen oder Polen, Freiligrath ging bis zu den „Mohren“, und auch ein überraschendes, unverbrauchtes Bild wie „Der Schlittschuh-laufende Neger“ dient ihm vor allem zu gefühligem Exotismus.

„Die seidne Schnur“ verbindet Exotismus und biedermeierliche Sexualmoral: Die macht- und waffenbewehrte Virilität des osmanischen Großwesirs trifft im Harem – dem Signalwort schlechthin – in brünstiger Umarmung auf die vollkommen verfügbare weibliche Sexualität der zirkassischen Sklavin. Im erotischen Rausch auf dem Tigerfell überhebt man sich gar gegen den absolut herrschenden Sultan, worauf die Liebesphantasie umschlägt: Ein Eunuch, das kalte Gegenprinzip zum triebhaften Taumel, bringt den Befehl zum Selbstmord, die seidene Schnur. Statt ihrer wird jedoch Leilas seidiges Haar das Requisit zum gemeinsamen Liebestod, zum Selbst-Lust-Mord, in dem das erotische Begehren noch im tödlichen Liebesröcheln über die neidische Beschränkung triumphiert. Reichlich opernhaft, gewiss, und doch entwickeln die gelungeneren unter Freiligraths Gedichten eine irritierende Faszination, vielleicht gerade wegen ihrer an sich berechenbaren Grellheit. Heines Spott über die „Barbarei beständiger Janitscharenmusik“ ist unabweisbar, doch bezeichnet er eben auch die ungebärdige Wildheit, die Vitalität jener Gedichte, deren schrille Melodie sich im Ohr vieler Leser unvergesslich festgesetzt hat.

 

In den 1840er Jahren, im Vormärz, vollzog Freiligrath eine Wende zum Politischen, und man lernt ihn etwa in dem Gedicht „Von unten auf!“ von ganz anderer Seite kennen. Es konzentriert sich auf das eingängige Bild eines Schiffes mit königlicher Pracht auf Deck und versklavter proletarischer Kraft darunter – einer Kraft, die die ganze heitere Herrlichkeit erst ermöglicht, aber auch zerstörerisch hinwegzufegen vermag. So stellt das Gedicht eine Ansicht des überlebten Staates vor Augen, der jeden Moment von der Revolution erfasst werden kann, in dessen Untergrund es brodelt wie im Heizkessel, wie in einem eben ausbrechenden Vulkan. Hier erweist sich Freiligraths Fähigkeit der suggestiven Stimmungsmalerei erneut, nun nicht mehr auf exotischem, vielmehr auf politischem Feld. Die Effekte, die er in seinen Gedichten immer schon pointiert einzusetzen wusste, ordnen sich einem klaren Ziel unter, der Botschaft ans Volk: „Wir sind die Kraft“, sowie der daraus geradezu zwingend hervorgehenden Ankündigung der Revolution. Der Titel des Gedichtbandes, in dem „Von unten auf!“ enthalten ist, Ça ira, war die Parole der französischen Sansculotten; der „halbernackte“ Proletarier-Maschinist ist die Entsprechung dazu, das ins Titanische gesteigerte Inbild der Revolution. Durch ähnlich gelungene Bildlichkeit besticht das Gedicht „Springer“ aus dem gleichen Band. Hier ist es das Schachspiel, das auf das Exilantenleben des Dichters bezogen wird, das „Schach der Freien wider die Despoten“, dem Freiligrath die aufmüpfige Pointe abgewinnt, dass man zwar von Feld zu Feld, von Land zu Land getrieben werden mag, dass aber nur ein König matt gesetzt werden könne.

In der Tat hatte die Hinneigung zum Politischen Freiligraths Leben entscheidend verändert. 1844 verzichtete er auf seine preußische Dichterpension und ging ins Ausland, zunächst nach Belgien, dann in die Schweiz, schließlich nach England. Erst 1848 kehrte er nach Deutschland zurück – dies war dann auch die Phase seiner Mitarbeit an der Marxschen Zeitung – um sich nach der Revolution wieder nach England zu retten. Dort wurde Freiligrath Bankangestellter – ein eigenartiges Los für einen Revolutionär. 1867 brach die Bank jedoch zusammen, was in Deutschland zu einer Spendensammlung für den Dichter und zu seiner Rückkehr in die Heimat führte; damals rettete man offenbar lieber die Bankangestellten als die Banken.

In seinen letzten Jahren, die er in Cannstatt verbrachte, wurde Freiligrath anlässlich des Deutsch-Französischen Krieges von einer nationalen Begeisterungswelle erfasst, was ihn später mancherlei Vorwürfen aussetzte. Indessen finden sich in den damals entstandenen Gedichten doch auch differenzierte Zwischentöne. „Die Trompete von Gravelotte“ etwa feiert ein Husarenstück, einen tollkühnen, verlustreichen Kavallerieangriff. (Angeblich war dies die letzte Schlacht der Kriegsgeschichte, die durch die Reiterei entschieden wurde). Allerdings liegt der Akzent des Gedichts weniger auf der heldischen Feier als auf der erschütternden Totenklage, ja, die zerschossene Trompete wird geradezu zum Zeichen dieses grundsätzlichen Zwiespalts aller Kriegspoesie. Ihr „klanglos Wimmern“, ihr „Schrei voll Schmerz“ eignet sich schwerlich als Signal des Militarismus.

Mit seinem schillernden Exotismus, seinem revolutionären Furor und schließlich seiner nationalen Emphase wirkt Freiligrath geradezu wie ein Spiegel des 19. Jahrhunderts, das ihn denn auch zum Klassiker für den bürgerlichen Bücherschrank kanonisierte. Es kann lohnender sein, als man denkt, zuweilen dort hineinzuschauen.

 

 

 

Die seidne Schnur

 

Im Harem weilt der Großwessir;

Mit Dolch und Flinte vor der Thür

Steht Wache haltend der Arnaut;

Auf eines Tigers bunter Haut

 

Liegt der Gebieter. – Schleierlos,

Kein Gurt umfängt den vollen Schoos,

Aus Purpurfalten glänzt wie Schnee

Ihr Fuß mit ringgeschmückter Zeh',

 

Entfesselt rollt ihr Haupthaar hin –

Ruht schlummernd die Circassierin

An seiner Brust; vom Kaukasus

Der Demant glänzt am Bosphorus.

 

Sein Auge glüht; sein Barthaar wallt

Auf die wollüstige Gestalt,

Sie träumt; sie lächelt; der Email

Der Zähne glänzt; – »Birgt dein Serail,

 

Soliman, solch ein Weib?« – Er sinkt

Zu ihr hinab; brünstig umschlingt

Er sie, berauscht von ihrem Hauch,

Von Moschusduft und Ambrarauch.

[…]

 

 

Von unten auf!

 

Ein Dämpfer kam von Bieberich: – stolz war die Furche, die er zog!

Er qualmt' und räderte zu Thal, daß rechts und links die Brandung flog!

Von Wimpeln und von Flaggen voll, schoß er hinab keck und erfreut:

Den König, der in Preußen herrscht, nach seiner Rheinburg trug er heut!

[…]

 

Doch unter all der Nettigkeit und unter all der schwimmenden Pracht,

Da frißt und flammt das Element, das sie von dannen schießen macht;

Da schafft in Ruß und Feuersgluth, der dieses Glanzes Seele ist;

Da steht und schürt und ordnet er – der Proletarier-Maschinist!

 

Da draußen lacht und grünt die Welt, da draußen blitzt und rauscht der Rhein –

Er stiert den lieben langen Tag in seine Flammen nur hinein!

Im wollnen Hemde, halbernackt, vor seiner Esse muß er steh'n,

Derweil ein König über ihm einschlürft der Berge freies Weh'n!

[…]

 

„Du bist viel weniger ein Zeus, als ich, o König, ein Titan!

Beherrsch' ich nicht, auf dem Du gehst, den allzeit kochenden Vulkan?

Es liegt an mir; – Ein Ruck von mir, Ein Schlag von mir zu dieser Frist,

Und siehe, das Gebäude stürzt, von welchem Du die Spitze bist!

 

Der Boden birst, aufschlägt die Gluth und sprengt Dich krachend in die Luft!

Wir aber steigen feuerfest aufwärts an's Licht aus unsrer Gruft!

Wir sind die Kraft! Wir hämmern jung das alte morsche Ding, den Staat,

Die wir von Gottes Zorne sind bis jetzt das Proletariat!“

[…]

 

 

Helmuth Mojem, geboren 1961, ist Leiter des Cotta-Archivs im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Zuletzt gab er den Katalog zur gleichnamigen Tübinger Ausstellung heraus: Von der Zensur zum Weltverlag. 350 Jahre Cotta-Verlag. Tübingen 2009.

Der Essay ist eine gekürzte Fassung seines Vortrags zum Freiligrath-Kolloquium des Stadtarchivs Stuttgart am 25. Juni 2010.

 

 


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